Sonntag, 2. Dezember 2012

Lindenauer Taschentuchgeschichte

Am 19. September hatte ich hier über einen Kurzgeschichtenwettbewerb im Leipziger Stadtteil Lindenau berichtet und über einen Zufall, der es mir ermöglichte, mich daran zu beteiligen. Gestern Abend hat nun die Vorstellung der Geschichten, jede mit maximal 1500 Anschlägen, in Lindenau stattgefunden — und die Bekanntgabe der Preisträger durch die Jury. Ich hatte aus Termingründen die Einladung, die mich kürzlich erreicht hatte, leider absagen müssen.

Nun hat sich herausgestellt, dass alle fünf Jurymitglieder eine meiner beiden eingereichten Geschichten, »Die Nachricht«,  auf Platz eins gesetzt haben. Das erfüllt mich natürlich mit herzlicher Freude, auch wenn ich den ersten Preis, einen Wochenendkurs der »Prosawerkstatt« von Frau Anna Kaleri, wegen des Kurstermins im Februar leider nicht selbst wahrnehmen kann.

Hier nun die von der Jury ausgewählte Geschichte, die ich vor dem Einreichen ein paarmal eindampfen musste, bis sie mit 1497 Anschlägen in die Wettbewerbsregeln passte:

Die Nachricht

Sie war der dunkle Typ, dunkelblondes Haar, dunkelbraune Augen, Mitte Dreißig vielleicht oder ein bisschen drüber, jedenfalls sympathisch. Die Frau im weißen Kittel tastete gerade den Bauch meines kleinen Sohnes ab. Wir saßen in ihrem Sprechzimmer im Sonntagsnotdienst der Poliklinik West in Lindenau, Herbst 1983. Beruhigend sprach sie mit ihrer angenehmen Altstimme mit dem Vierjährigen. Mich beruhigte ihre Diagnose. Bauchweh und Durchfall waren nicht weiter schlimm, morgen würde nach ein paar Tabletten alles vorbei sein.

Ein wenig Schriftkram war noch zu erledigen, und sie schrieb Daten aus meinem grünen West-Reisepass ab. Als sie plötzlich aufschaute und mir direkt in die Augen sah, nahm ich ein leises Flackern wahr, ganz hinten, hinter der braunen Iris. »Ich sehe in Ihrem  Reisepass die Postleitzahl 6980. Ist das nahe bei Heidelberg?«, fragte sie. »Nicht gerade sehr nahe, aber unser Postbezirk. Ich habe dort studiert.« Ihre Augen prüften mich einen Moment, bevor sie vorsichtig und ein bisschen zögernd fragte: »Würden Sie meiner Freundin in Dossenheim einen Gruß von mir ausrichten?« Klar, das würde ich, selbstverständlich würde ich das. Sie nannte Namen und Adresse, schien erleichtert, es hinter sich gebracht zu haben; mit einem Händedruck verabschiedeten wir uns.

Die Freundin freute sich offensichtlich sehr, als ich sie nach meiner Heimkehr noch abends anrief. Und ich freute mich, für diesen kleinen Dienst genug Vertrauen gefunden zu haben. – Was für ein Land!

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